4 Monate ohne Bewährung + 8 Monate drohender Bewährungswiderruf = Schwere der Tat = Pflichtverteidiger! Auf diese einfache “Formel” lässt sich die Auffassung des OLG Nürnberg im Beschluss vom 16.01.2014 (2 OLG 8 Ss 259/13) reduzieren.
“Ein Fall der wegen der Schwere der Tat notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt in der Regel bereits dann vor, wenn der Angeklagte in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten ohne Bewährung verurteilt worden ist, nur er Berufung eingelegt hat und für den Fall seiner rechtskräftigen Verurteilung mit dem Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von acht Monaten rechnen muss, die insgesamt drohende Freiheitsstrafe somit ein Jahr beträgt.” (OLG Nürnberg, aaO)
Im Rahmen der Entscheidung werden die Grundzüge der Verteidigerbestellung wegen der “Schwere der Tat” gemäss § 140 Abs. 2 StPO schön dargestellt:
Pflichtverteidigerbeiordnung immer erforderlich, wenn 1 Jahr ohne Bewährung im laufenden Verfahren droht
Dass wegen der “Schwere der Tat” jedenfalls (spätestens) ab einer drohenden Freiheiheitsstrafe von einem Jahr dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, ist mittlerweile gefestigte Rechtsprechung, die das OLG Nürnberg schön zusammengestellt hat.
“Die Grenze zur schweren Tat wird mittlerweile einhellig bei um einem Jahr Freiheitsstrafe gezogen, wobei die überwiegende Rechtsprechung der Oberlandesgerichte die Mitwirkung eines Verteidigers in der Regel als notwendig ansieht, wenn Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber ohne Strafaussetzung zur Bewährung droht (BayObLG NJW 1995, 2738 Rdn. 4 nach juris; KG StraFo 2013, 425 Rdn. 6 nach juris; NStZ-RR 2013, 116 Rdn. 4 nach juris; OLG Brandenburg NJW 2005, 521, sowie Beschlüsse vom 09.01.2006 – 1 Ss 109/05, Rdn. 10 nach juris; vom 24.01.2011 – (1) 53 Ss 187/10, Rdn. 8 nach juris, und vom 07.11.2007 – 1 Ss 90/07, Rdn. 5 nach juris; OLG Hamm StV 2002, 237 Rdn. 6 nach juris; StV 2004, 586 Rdn. 5 nach juris, sowie Beschluss vom 15.04.2008 – 4 Ss 127/08, Rdn. 10 nach juris; OLG Köln StraFo 2003, 420 Rdn. 7 nach juris; OLG Naumburg StV 2013, 433 Rdn. 9 nach juris; OLG Jena StraFo 2005, 200, Rdn. 5 nach juris, sowie Beschluss vom 22.04.2009 – 1 Ws 148/09, Rdn. 13 nach juris; KMR-StPO/Haizmann §140 Rdn. 27; wohl auch OLG Celle Beschluss vom 30.05.2012 – 32 Ss 52/12, Rdn. 11 nach juris; OLG Koblenz StraFo 2006, 285 Rdn. 8 nach juris; so auch – ohne abschließende Entscheidung – OLG Karlsruhe NStZ 1991, 505 Rdn. 9 nach juris).” (OLG Nürnberg, aaO)
Beiordnung auch dann, wenn “nur” Bewährungsstrafe droht
Ob das erreichen der “Jahresgrenze” nur dann eine Pflichtverteidigerbeiordnung rechtfertigt, wenn die drohende Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt wird, ist umstritten. Die vorzugswürdige Auffassung, dass schon eine drohende Bewährungsstrafe die Beiordnung gebietet, wird ebenfalls von zahlreichen Oberlandesgerichten vertreten.
Nach der Rechtsprechung einiger Oberlandesgerichte soll dies selbst dann gelten, wenn die Vollstreckung der zu erwartenden Freiheitsstrafe von einem Jahr zur Bewährung ausgesetzt wird (so etwa OLG Frankfurt StraFo 2000, 344 Rdn. 2 nach juris; OLG Hamm – 2. Strafsenat – NStZ-RR 2001, 373 Rdn. 9 nach juris; OLG Saarbrücken Beschluss vom 24.04.2007 – Ss 25/2007 (28/07), Rdn. 8 nach juris; so auch KK-StPO/Laufhütte, 7. Aufl, § 140 Rdn. 21; s.a. OLG Braunschweig StV 1996, 6: bei zur Bewährung ausgesetzter Freiheitsstrafe von über einem Jahr; anderer Ansicht OLG Hamm Beschluss vom 12.02.2008 – 3 Ss 541/07, Rdn. 18 nach juris, und OLG München NJW 2006, 789 Rdn. 13 nach juris). (OLG Nürnberg, aaO)
Was ist bei drohendem Bewährungswiderruf in anderer Sache?
Das OLG Nürnberg bestätigt mit der vorliegenden Entscheidung die Auffassung vieler Oberlandesgerichte, dass es für die Berechnung des Strafübels von einem Jahr Freiheitsstrafe auf die Summe der Strafen aus dem laufenden Verfahren und dem Verfahren, in dem der Bewährungswiderruf droht, ankommt.
“Der Senat ist im Einklang hiermit bereits in seinen Beschlüssen vom 30.05.2005 (2 St OLG Ss 57/05), 12.10.2005 (2 St OLG Ss 211/05) und 22.02.2006 (2 St OLG Ss 14/06) davon ausgegangen, auch wenn der Angeklagte mit einem Bewährungswiderruf zu rechnen habe, sei eine Verteidigerbestellung nicht regelmäßig, sondern nur dann geboten, wenn die Summe der zur Bewährung ausgesetzten und der neu zu erwartenden Strafe die Grenze von einem Jahr erreicht oder darüber liegt (jeweils unter Hinweis auf BayObLGSt 1995, 56 = NJW 1995, 2738; KG NStZ-RR 2002, 242; OLG Hamm StV 2002, 237; OLG Köln StV 1993, 402).” (OLG Nürnberg, aaO)
Bekomme ich auch einen Pflichtverteidiger wenn mir weniger als ein Jahr Freiheitsstrafe droht?
Das ist eine interessante und viel diskutierte Frage. Eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Kritiker der oben dargestellten Rechtsprechung fragen jedenfalls zu Recht, wer die allgegenwärtige Jahresgrenze überhaupt aufgestellt hat. Wieso sind z.B. 6 Monate Gefängnis “nicht so schlimm”? Was ist mit den Angeklagten, die bei der oben dargestellten Arithmetik “durch den Rechenschieber” fallen? Es mutet zynisch an einem Angeklagten sagen zu müssen, “Sie brauchen doch gar keinen Verteidiger, Ihnen drohen doch “nur” 11 Monate Knast!” Leider ist dieser Zynismus gelebter Alltag in der Strafjustiz.
Besserung ist jedoch nicht ausgeschlossen, denn die oben dargestellte Straferwartung von einem Jahr stellt zum Glück – wie auch das OLG Nürnberg betont – keine starre Grenze dar.
Einigkeit besteht darin, dass es sich bei der Straferwartung von einem Jahr nicht um eine starre Grenze handelt (vgl. nur OLG Celle Beschluss vom 30.05.2012 – 32 Ss 52/12, Rdn. 10 nach juris; OLG Düsseldorf StraFo 1998, 341 Rdn. 5 nach juris; NStZ-RR 2001, 52 Rdn. 4 nach juris; OLG Hamm Beschluss vom 12.02.2008 – 3 Ss 541/07, Rdn. 18 nach juris; OLG Köln StraFo 2003, 420 Rdn. 8 nach juris; OLG Naumburg StV 2013, 433 Rdn. 9 nach juris; Meyer-Goßner, aaO. §140 Rdn. 23 m.w.N.). Demgemäß kann unter besonderen Umständen auch schon bei einer Straferwartung von weniger als einem Jahr die Mitwirkung eines Verteidigers geboten sein (OLG Köln StraFo 2003, 420 Rdn. 8 nach juris). So hat das OLG Koblenz (StraFo 2006, 285 Rdn. 8 und 9) bereits bei sieben Monaten Freiheitsstrafe einen Fall der notwendigen Verteidigung bejaht (vier Monate und drohender Widerruf drei Monate), während andere Oberlandesgerichte acht Monate wegen deutlicher Unterschreitung der Jahresgrenze (KG NStZ-RR 2013, 116 Rdn. 4 nach juris), neun (OLG Oldenburg NdsRpfl 2005, 255 Rdn. 4 nach juris) oder zehn Monate Freiheitsstrafe (OLG Dresden NStZ-RR 2005, 318 Rdn. 10 nach juris) nicht ausreichen ließen, um einen Fall der notwendigen Verteidigung anzunehmen. (OLG Nürnberg, aaO)
Fazit: Ab einem Jahr muss, darunter kann!
Im Einzelfall kann also eine Pflichtverteidigerbestellung auch dann in Betracht kommen, wenn weniger als ein Jahr Freiheitsstrafe droht. Ab einem Jahr muss immer ein Verteidiger bestellt werden.